Vom Denken zum Danken
hier können Sie den Predigttext lesen: Jesaja 58,7-11
Danken und denken gehören zusammen. Nur weil ich daran denke, was ich empfangen habe, kann ich danken. Und wenn ich danke, dann nur, weil da vorher das Denken war. Das Erntedankfest soll uns zu denken geben. Aber muss es so eine harte Nuss sein wie der Predigttext? Ein Erntedankfest soll doch ein fröhliches Fest sein. Stattdessen hören den Jesaja reden: „Brich mit dem Hungrigen dein Brot. Nimm den Obdachlosen in dein Haus auf. Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn.“ Und es klingt wie Nadelstiche in unser Gewissen.
Ist es das, was wir uns heute anhören müssen? Bekommt man nicht schon genug ins Gewissen geredet? Werden einen nicht schon genug Appelle zum Sparen, Teilen und Helfen um die Ohren geschlagen? Wird man nicht schon genug bedrängt von allen möglichen Organisationen, die an unsere Tür klopfen und um Unterstützung bitten? Müssen wir nicht schon genug Opfer bringen, um in Schieflage geratene soziale Sicherungssystem zu retten? Was kommt da noch auf uns zu, z.B. bei der Rentenversicherungen?
Tatsächlich eine berechtigte Frage: was sollen diese Themen an Erntedank? Wo soll da Platz sein für den Dank für das, was wir empfangen haben? Wo ist Raum für das Besinnen, dass trotz aller unserer Mühe – Pflügen, Säen, Pflegen, Ernten – Gott es ist, der Wachstum und Gedeihen gibt? Wie soll man danken können, wenn einem so ins Gewissen geredet wird, wie es Jesaja tut?
Gut, dass Jesaja nicht bei den Nadelstichen ins Gewissen bleibt. Wir lesen bei ihm nicht nur Aufforderungen, Appelle. Noch etwas anderes gibt es da. In eindrucksvollen Bilder sagt Jesaja die Zuwendung Gottes und Hilfe zu: „Dein Licht wird in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Deine Heilung wird schnell voranschreiten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“
Das klingt eigentlich ganz großartig. Wenn da nicht so eine Formulierung wäre, die eine Bedingung zu enthalten scheint. Wenn ihr euch euren Mitmenschen zuwendet, dann wird Gott sich euch zuwenden. Wenn du mit dem Hungrigen dein Brot brichst, wenn du den Obdachlosen bei dir aufnimmst, wenn du den Nackten kleidest, wenn du das alles tust, ja dann erweist dir Gott seine Gunst.
Das klingt wie eine Vorleistung, die wir bringen müssen, wie eine Bedingung, die wir erfüllen müssen, bevor Gott etwas an uns tut. Wenn du so tust – dann tut Gott so.
Aber kann das sein? Verknüpft Gott seine Liebe an Bedingungen? Das funktioniert ja schon in normalen menschlichen Beziehungen nicht. Es ist geradezu Gift für jede Partnerschaft, wenn einer zum anderen sagt: „Ja, wenn du nicht immer deine dreckigen Socken liegen lassen würdest, dann würde ich dich um so mehr lieben.“
Jesaja verknüpft den Appell zur Hilfe am Mitmenschen mit der Verheißung einer guten Zukunft. Den Schwachen, den Ausgestoßenen, den Hungrigen soll es gut gehen – durch die Hilfe derer, denen es besser geht. Die sollen helfen, die helfen können. Dann wird es beiden besser gehen - denen, denen geholfen wird, und denen, die helfen.
Das heißt doch eigentlich: allen soll es besser gehen. Es ist – wie man heute manchmal sagt – ein win-win-Situation. Alle gewinnen dabei. Das ist es, was Gott will. Gott will, dass allen Menschen geholfen werde. Der Himmel soll über allen aufgehen und die Sonne allen scheinen.
Beim Propheten hat es wie eine Bedingung geklungen: wenn du das und das tust, dann wird das und das sein. Wenn du mit dem Hungrigen dein Brot brichst, wenn du den Obdachlosen bei dir aufnimmst, wenn du den Nackten kleidest, dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten.
In Wahrheit geht es um den Maßstab, an dem sich all unser Tun misst. Der Maßstab sind die Schwachen, die Ärmsten. Solange es denen nicht gut geht, kann es den anderen auch nicht gut gehen. Solange die einen in Hunger, Elend und Unterdrückung leben, können die anderen sich nicht ausruhen und zurücklehnen, als ob sie das gar nichts angeht. Das meint der Prophet.
Gott will dass, allen Menschen geholfen wird, dass es mit allen Menschen besser wird. Er will, dass die einen es besser machen, damit es den anderen besser geht. So funktioniert Gottes Gerechtigkeit. Nicht passiv empfangen nach dem Gießkannenprinzip, es wird verteilt, bis eben nichts mehr da ist. Sondern aktiv Recht und Gerechtigkeit tun und durchsetzen.
Und das ist nie unnötig und nie zu spät. Es gibt ja eine neue Ungerechtigkeitsdiskussion in unserem Land. Soll es Steuern auf Vermögen und Erbschaften geben, damit das Bürgergeld weiter gezahlt werden kann?. Ist es gerecht, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter aufgeht? Es gibt Beobachter und Kommentatoren, die sagen, was wir derzeit erleben, ist die Herrschaft der Superreichen. Plutokratie oder Oligarchie nennen wir dies, - nicht nur in Russland, sondern auch in dem, was von den USA übrig ist. Es ist das Geld, das regiert. Um sich die Dimension klar zu machen: es stand gestern in der Zeitung: Elon Musk besitzt ein Vermögen von über 500 Milliarden Dollar. Das heißt: er könnte jedem Erdenbürger vom Säugling bis zum Greis 50 Dollar schenken und hätte immer noch 100 Milliarden übrig.
Stattdessen haben die Tafeln immer mehr Zulauf, die Kinderarmut hierzulande stagniert seit Jahren auf hohem Niveau. Jedes 5. Kind gilt als armutsgefährdet. Das sind Probleme, die diskutiert werden müssen, da darf es nicht darum gehen, Privilegien zu schützen. Das sage ich nicht aus irgendeiner politischen Überzeugung heraus. Das sage ich, weil es biblisch ist.
Recht und Gerechtigkeit. Ein Schlüsselwortpaar bei Jesaja, im Alten Testament, in der gesamten Bibel. Wenn das Wortpaar Recht und Gerechtigkeit auftaucht, geht es immer darum, so zu sein und das zu tun, wie recht ist in Gottes Augen. Und das ist immer ein Maßstab, der die Schwächsten sieht: Kinder, Witwen und Waisen (die damals total Rechtlosen), die Bedrückten und Bedrängten, Alte, Arme, Einsame, Behinderte, Ausgegrenzte, Fremde...
Wie ihnen, den Schwächsten, Recht und Gerechtigkeit getan wird, danach werden alle Könige im alten Israel beurteilt und oft auch verurteilt. Danach kann man auch eine Gesellschaft heute beurteilen. Man muss dazu kein Ökonom und Wirtschaftswissenschaftler sein. Es ist legitim, vom Ergebnis her zu urteilen. Kirche darf und muss darum auch ihre Stimme erheben und darf sich nicht weismachen lassen, sie verstehe davon nichts.
Schließlich, wie den Schwächsten Recht und Gerechtigkeit getan wird: danach werden auch wir selbst beurteilt – am Ende der Zeiten.
In der Jesusrede über das Weltgericht im Matthäusevangelium tauchen die Worte des Jesaja noch einmal auf: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet.“ Jesu endet mit den Worten: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Erinnern wir uns. Wir haben eigentlich einen Grund zum Danken gesucht in diesem Text von Jesaja. Jetzt geht es auf einmal ums Ganze, um Leben und Tod, um Leben nach dem Tod. Erschrocken? Verschreckt? Es ist natürlich ein Riesenanspruch, der hier formuliert wird. Ja! Aber zugleich gibt es da doch etwas zu entdecken, was zugleich eine große Verheißung, ein Versprechen, ein Zuspruch, ein richtiger Grund, dankbar zu sein. Fast versteckt zwischen all den Worten und Appellen. Da heißt es: „Wenn du schreist, wird Gott sagen: Hier bin ich.“
„Hier bin ich.“ So sagt eigentlich immer der Mensch, den Gott ruft, anspricht, in Anspruch nimmt. Abraham sagt es zum Beispiel, als Gott ihm befiehlt, seinen Sohn Isaak zu binden. Mose sagt es, als Gott ihm seinen Namen im brennenden Dornbusch offenbart und ihn dazu bestimmt, das Volk Israel aus der ägyptischer Knechtschaft herauszuführen. Der frühe Jesaja sagt es, als Gott ihn beauftragt, Prophet zu sein und sein Wort dem Volk auszurichten. Hier bin ich.
Jetzt sagt es Gott: „Hier bin ich“ – wenn Menschen nach Gott rufen, ihn ansprechen, ihn in Anspruch nehmen, nach ihm schreien in der Not: „Hier bin ich.“ Unerhört ist das. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das war noch nie zuvor zu hören in der Bibel. Gott sagt zum Menschen: „Hier bin ich“.
Das ist mehr als ein kurzer Satz. Das ist Gottes Programm, sein Plan. Das auch nicht irgendeine Eigenschaft Gottes. Das ist Gott. Das ist sein Name. So hat er sich dem Mose offenbart. So zeigt er sich uns im Immanuel – zu deutsch: Gott mit uns – als Kind vom frühen Jesaja verheißen, in Bethlehem im Stall geboren, als Mann am Kreuz gestorben. Und so verspricht er es uns als der Auferstandene: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
Wenn ich daran denke, dann komme ich ins Danken. Denn der, der mit uns ist, ist auch der, der uns gibt. Der, der zu uns sagt: Hier bin ich! der wird dich – mit den Worten des Jesaja – immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
Wunderbar! So lasst uns das Erntedankfest feiern. Amen.
Martin Anefeld, Pfr.